Schon die Liste der Autoren lässt auf ein fachlich fundiertes und praxisnahes Buch hoffen: Daniel Illy ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Autor einer ganzen Reihe von Ratgebern zu psychischen Störungen, darunter auch das empfehlenswerte „Ratgeber zu Videospiel- und Internetabhängigkeit“ aus dem Jahr 2018.
Lisa Kehler unterhält eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie, Kristin Schneider ist Mitarbeiterin des Caritasverbands Erzbistums Berlin, welches mit „Lost in Space“ eine der damals deutschlandweit ersten Einrichtungen zu Computerspiel-Sucht unterhält.
Und nicht zuletzt Bert te Wildt, mittlerweile Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen, die eine stationäre Therapie gegen Computerspiel-Sucht anbietet. Er ist außerdem häufig konsultierter Experte in Fernsehen und Zeitungen und Autor des ebenfalls exzellenten Buchs “Digital Junkies” (2015).
Obwohl Videospiel-Sucht durch die Anerkennung der WHO als “Gaming Disorder” 2018 viel mediale Aufmerksamkeit erfahren hat, ist seit Klaus Wöflings kongnitiv-behavioralem Behandlungsmanual im Jahr 2012 aus Sicht der Behandler wenig Nennenswertes erschienen. Diese Lücke versucht das Praxishandbuch nun zu füllen.
Mit viel Kenntnis der Gaming-Kultur
Von den ersten Zeilen an entsteht der Eindruck, dass sich die Autoren wirklich intensiv mit der Gaming-Kultur auseinandergesetzt haben – man merkt es an der treffsicheren Einordnung der Spiele – Cyberpunk 2077, PUBG, Fortnite, The Witcher, Kerbal Space Program, Stellaris, Terraria – das sind Spiele, die jemand bei einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Thema sicher nicht nennen könnte.
Auch die Themen, die es in den vergangenen Jahren in die Medien geschafft haben, Lootboxen, Free2Play, Mikrotransaktionen werden an ganz konkreten Beispielen erklärt: etwa dem “Ultimate Team” Modus in FIFA oder Jan Böhmermanns mediale Auseinandersetzung mit Coin Master. Die Autoren kennen und zitieren auch einschlägige Quellen außerhalb wissenschaftlicher Kreise: Börsenberichte von Spiele-Publisher Activision-Blizzard oder das Spielemagazin The Pod. Ein Blick über den Tellerrand, der sich lohnt und die Diskussion bereichert.
Sachlich und unaufgeregt
Ein definitiv erwähnenswerter Abschnitt ist “Killerspiele und Gewalt”. Ein brisantes, gehyptes Thema, das die Emotionen hochkochen lässt, wird hier nüchtern und sachlich abgehandelt. Vielleicht könnte man die immergleiche, müßige Diskussion damit vorerst endlich zur Seite legen.
Es ist bemerkenswert, wie wissenschaftlich detailliert sich die Autoren mit Computerspiel-Sucht auseinandersetzen. Klar wird das etwa in der Bewertung der Studien, die Manfred Spitzer in “Digitale Demenz” zu alarmierenden Statements verleiten. Die Autoren nehmen sich die zitierten wissenschaftlichen Studien von Green und Bavelier (2003), Owen et al. (2010), Wu et al. (2013) oder Brennan et al. (2019) im Original vor und kommen zu einem deutlich anderen Ergebnis.
Aber zurück zum eigentlichen Thema: In einzelnen Kapiteln werden nacheinander Symptome, Ursachen, Diagnostik (in DSM und ICD), Begleiterkrankungen, Epidemiologie und Therapiemöglichkeiten behandelt.
Darunter findet sich Bekanntes, Bewährtes und Etabliertes wie wissenschaftliche Fragebogenmethoden, lernpsychologische und biopsychosoziale Ansätze, Einflussfaktoren wie die Pubertät, psychiatrische Komorbiditäten (ADHS, Depressionen, Angststörungen), aber auch brandneues, wie Studien, die eine gleich häufige, aber versteckte Abhängigkeit auch bei Mädchen und Frauen sehen.
Der aktuelle Stand der Behandlung von Computerspiel-Sucht
Im letzten Abschnitt mit Therapieoptionen und -inhalte wird ausführlich über psychotherapeutische Verfahren (kognitiv-behaviorale, tiefenpsychologische und systemisch/familientherapeutische Ansätze), deren Wirksamkeit und die (eingeschränkte) Möglichkeit von medikamentöser Therapie berichtet.
Für Psychotherapeuten und Psychologen besonders nützlich ist dabei der rund 40-seitige Teil über konkrete Inhalte in Beratung und Therapie. Vorgestellt werden das Ampelmodell, das SMART-Konzept, Verhaltensanalysen und Arbeit mit dem Teufelskreis der Sucht – alles was eine State of the Art-Behandlung von Computerspiel-Sucht umfassen sollte.
Etwas ungeschickt ist leider, dass die Autoren den Begriff “Videospielsucht” anstelle des deutlich geläufigeren “Computerspiel-Sucht” verwenden. Die Argumentation für diese Wahl ist durchaus nachvollziehbar, bleibt zu hoffen, dass das Buch von Interessenten trotzdem gefunden wird.
Fazit ★★★★★
In Summe ist das Praxishandbuch konkurrenzlos, wenn es für Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiater oder sozialarbeiterische Berufe darum geht, sich ein detailliertes Bild über den aktuellen Stand der Forschung, über Ursachen, Epidemiologie und die Behandlung von Computerspiel-Sucht zu machen.
Allerdings ist es wirklich ein Buch für Fachleute. Computerspielsüchtigen selbst, besorgten Eltern oder Angehörigen würde man eher “Onlinesucht: Ein Ratgeber für Eltern, Betroffene und ihr Umfeld” von Isabel Willemse oder auch “Ratgeber Videospiel- und Internetabhängigkeit: Hilfe für den Alltag”, ebenfalls von Daniel Illy, empfehlen. Laien werden von der Informationsfülle geradezu erschlagen.
Das Praxisbuch zu Videospiel- und Internetabhängigkeit aber darf zumindest für die nächsten Jahre als deutschsprachiges Standardwerk zu Computerspiel-Sucht gelten.
Illy, Kehler, Schneider und te Wildt zeigen, wie moderne Beratung und Behandlung von Computerspiel-Sucht aussehen muss: wissenschaftlich fundiert, auf Augenhöhe mit dem Betroffenen, mit tiefem Verständnis der Gaming-Kultur.
Auf der Seite des Verlags Elsevier
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt.