Buch: Behandlungsmanual Videospiel- und Internetabhängigkeit | Illy & Florack

Behandlungsmanual zu Abhängigkeit von Videospielen

Studien zu Psychotherapie zeigen immer wieder, dass verhaltentherapeutische Interventionen die besten Ergebnisse bringen.

Deshalb entwickeln Wissenschaftler oft Manuale, also ganz konkrete Anleitungen, wie die einzelnen Therapie-Sitzungen aussehen können.

Ein solches Behandlungsmanual für Videospiel- und Internet-Sucht legen Daniel Illy, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, und Jakob Florack, Oberarzt am Klinikum in Friedrichshain, nun vor.

Das “Git Gud in Real-Life”-Programm ist für Jugendliche (ab 14 Jahren) und junge Erwachsene gedacht und wird in Gruppensitzungen mit begleitenden Einzelsitzungen abgehalten. Dabei bleiben die Gruppen halb-offen, ein Ein- oder Ausstieg ist jederzeit möglich.

10 Wochen Therapie

Die Gruppeneinheiten dauern zwischen 60 und 90 Minuten. Nur für die Einheiten mit Sport und Bewegung wird mehr Zeit eingeplant. Insgesamt 10 Module ergeben bei wöchentlichen Sitzungen ein sich wiederholendes Programm von ca. 3 Monaten, danach beginnt der Kreislauf erneut.

Modul 1: Kennenlernen und Zielsetzung
Modul 2: Formen und Kriterien der Abhängigkeit
Modul 3: Spiele-Genres, suchtfördernde Faktoren und Kunst
Modul 4: Teufelskreis Sucht
Modul 5: Tagesstruktur und alternative Aktivitäten
Modul 6:Suchtentstehung und psychische Begleiterkrankungen
Modul 7:Angehörige
Modul 8:Sport und Freizeitgestaltung
Modul 9:Emotionsregulation
Modul 10:Peergroup, Suchtverschiebung und Rückfallprophylaxe
Ablauf der Gruppentherapie bei Videospiel-Sucht nach Illy & Florack (2021)

Jedes der Module wird im Buch detailliert beschrieben: Ablauf, angestrebte Ziele, erforderliche Materialien und Vorschläge von konkreten Fragen, um die Diskussionen anzuregen. Die passenden Arbeitsblätter finden sich sowohl im Anhang des Buches als auch als kostenloser Download auf der Verlagsseite (mit Zugangscode aus dem Buch).

Best of Verhaltenstherapie

Bei der Durchsicht der Unterlagen zeigt sich viel Bekanntes und Bewährtes aus der Behandlung von Computerspiel-Sucht. Es gibt Arbeitsblätter zur

  • Zielsetzung mit der SMART-Methode,
  • schriftliche Vereinbarung grundlegender Gruppenregeln,
  • eine Vierfelder-Tafel zur Kosten-Nutzen-Analyse, die kurz- und langfristige Folgen des Computerspielens verdeutlichen soll,
  • und natürlich das obligatorische Medientagebuch, um Spielzeiten Fortschritte sichtbar zu machen (als Alternative zum Tages-Zeitkuchen).

Besonders gelungen ist der Abschnitt über den Teufelskreis der Sucht, bei dem gleichzeitig die drei Methoden eingebaut sind, aus diesem Kreislauf zu entrinnen:

  1. Stimuluskontrolle – der Versuch mit einem Ampelsystem dem Drang nach Spielen mit Willenskraft zu widerstehen,
  2. dem Planen alternativer Aktivitäten, um die zugrundeliegenden Bedürfnisse auf eine andere Weise zu befriedigen und
  3. Selbstkontrolle.

Neu sind Arbeitsblätter zu den Spiele-Genres und suchtfördernden Faktoren wie Monetarisierungstechniken bei Free2Play. Das ist sinnvoll, weil manche Spiele-Genres (vor allem MMORPGs wie World of Warcraft, Battle Royal-Spiele wie Fortnite) als gefährlicher einzustufen sind als reine Single Player-Spiele, die nur offline gespielt werden.

Gaming-Expertise

Im Zuge dessen wird auch angesprochen, was an modernen Videospielen Kunst sein kann – eine Perspektive, die bei einer klinischen Betrachtung gerne untergeht.

Videospiel-Sucht wird am besten mit Verhaltenstherapie behandelt.
Verhaltenstherapie hat sich in der Behandlung von Videospiel-Sucht am wirksamsten erwiesen.

Besonders an dieser Stelle wird klar, wie tiefgreifend sich die Autoren mit Computerspielen auseinandergesetzt haben. Die aktuellen Spiele wie Call of Duty, Far Cry , Dirt oder Apex Legends werden korrekt zugeordnet und mit suchttherapeutisch wichtigen Vermerken versehen – etwa Endlosspiel wegen Open World, eingebauten Lootboxen, sozialem Druck und Progressionssysteme.

Suchtmodells erarbeiten

Erfahrungsgemäß spielt die Psychoedukation eine große Rolle in der Behandlung von Süchten. Den Betroffenen hilft es sehr, sich ein persönliches Modell der Suchtentstehung zu erarbeiten.

Dazu wird im Arbeitsblatt “Abhängigkeit” ergründet, wie

  • die eigene Persönlichkeit (Stärken, Schwächen, Erziehung, früheres Suchtverhalten, nicht erfüllte Bedürfnisse in der realen Welt),
  • das Mileu (Beziehungen, Veränderungen in Alltag, Schule, Beruf, Studium) und
  • die Videospiele und der Markt (Monetarisiuerungsmodelle, Profiteure, Anbieter, Kosten)

die Sucht haben entstehen lassen und auch weiterhin aufrechterhalten.

Entspannung gegen Stress und Suchtdruck

Zu Recht finden Entspannungsverfahren in fast allen Verhaltenstherapien einen Platz – ihre Wirksamkeit ist gut belegt. Bei Videospielabhängigen helfen sie, eine Alternative zu schaffen, wenn das Spielen die einzige Fluchtmöglichkeit vor Problemen, depressivem Gedankenkreisen oder Traurigkeit scheint. Die Autoren entscheiden sich für die Progressive Muskelrelaxation (PMR).

Der Rest: Diagnostik, Begleiterkrankungen, Elternarbeit

Bleiben noch Themen, die sich rund um das Behandlungsprogramm auftun: Wie geht man mit besorgten Eltern um, wann ist eine Diagnose Videospiel-Sucht berechtigt und welche möglichen Begleiterkrankungen müssen abgeklärt werden? Diesen Fragen widmen Illy & Florack jeweils 1-2 Seiten, was knapp aber ausreichend ist.

Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Videospiel-Sucht und dem aktuellen wissenschaftlichen Stand empfiehlt sich aber eher das Praxisbuch, ebenfalls von Daniel Illy. Damit sollten keine Fragen mehr offen bleiben.

Fazit ★★★★★

Mit “Git Gud in Real-Life” bekommen Psychologen und Psychotherapeuten ein ausgereiftes Therapieprogramm für die Behandlung von Videospiel-Sucht in die Hand. Die detaillierte Beschreibung der einzelnen Sitzungen sind dabei sehr hilfreich, die Unterlagen übersichtlich und leicht verständlich.

Besonders jenen Therapeuten, die sich bisher mit Computerspielen gar nicht beschäftigt haben, wird der Einstieg leicht gemacht. Es bleibt sicher zu wünschen, dass sich die Leiter von Therapien weiterhin über Manuale hinaus selbst mit Computerspielen beschäftigen – entweder selbst ausprobieren oder zumindest über Let’s Play-Videos die Faszination der Gaming-Welt selbst erleben.

Die grundlegende Qualität der Therapie sollte aber jedenfalls gesichert sein, wenn man dem Ablauf des Manuals folgt – nicht zuletzt, weil die Wirksamkeit der Gruppentherapie in einer umfangreichen Studie empirisch belegt wurde.

Illys und Floracks Behandlungsmanual zur Gruppentherapie mit Videospielsüchtigen ist deshalb uneingeschränkt empfehlenswert und eine große Hilfe in der täglichen Praxis. Darüber hinaus lassen sich die meisten Materialien auch in einer Einzeltherapie gut verwenden.

Im Elsevier-Shop

Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt.