von Dr. Armin Kaser | Psychologe
Was ist Internet-Sucht, wie kann man sie erkennen und therapieren? Warum besonders Frauen süchtig nach TikTok & Instagram werden und was Eltern tun können lesen Sie hier.
Zusammenfassung
- Vernachlässigung von Pflichten in Schule und Job, von Hobbys und Freundschaften, Vereinsamung und Reizbarkeit bei Entzug sind die wichtigsten Symptome einer Internet-Sucht.
- Als Ursache werden genetische Vulnerabilität, soziale und familiäre Konflikte, Einsamkeit, ein schwaches Selbstwertgefühl angenommen.
- Internet-Sucht kann psychotherapeutisch behandelt werden. Suchtzentren bieten Beratung, auch Online-Beratung ist möglich.
- Eine Therapie kann helfen, wieder einen normalen Umgang mit Computer und Smartphone zu finden. Komplette Abstinenz ist nicht das Ziel.
Was ist Internet-Sucht?
Das Internet kann viele Bedürfnisse befriedigen – nach Gesellschaft, Anerkennung, Aufmerksamkeit, Liebe, Glück, Lust und Sex. In Online Communitys, Computerspielen und Porno-Plattformen lassen sich diese Wünsche manchmal leichter erfüllen als im echten Leben.
Während die große Mehrheit der Nutzer einen gesunden Umgang mit dem Internet schafft, werden manche leider abhängig. Dabei wird Internet-Sucht in 3 Bereiche unterteilt:
- Computerspiel-Sucht (auch Videospiel-Sucht oder Gaming Disorder)
- Online-Sex-Sucht
- Abhängigkeit von sozialen Medien (Instagram, Facebook, TikTok)
Häufigkeit
Die aktuellste DAK Studie „Mediensucht 2020“ ergab 3,2 % Internetsüchtige in Deutschland. Zusätzlich zeigten 8,2 % ein riskantes Nutzungsverhalten, das heißt sie erfüllen bereits einzelne Kriterien einer Internet-Sucht.
Weltweite Studien berichten von 0,8 % bis 4,6 % Internetsüchtigen in der Bevölkerung. Höhere Zahlen werden angenommen
- bei jugendlichen Mädchen (4,9 %) und
- in den asiatischen Ländern mit bis zu 18 %.
Männer vs. Frauen
Es gibt einen Unterschied darin, wie oft Männer und Frauen von Internet-Sucht betroffen sind. Männer entwickeln fast immer eine Abhängigkeit von Computerspielen. In Beratungsstellen zu Computerspiel-Sucht sind 96 % der Hilfesuchenden männlich.
Frauen hingegen werden eher abhängig von sozialen Medien (TikTok, Instagram, Facebook), Foren oder Online-Chat (WhatsApp, Telegram etc.). Soziale Medien scheinen besser zu ihrem Bedürfnis nach Kommunikation und Aufmerksamkeit zu passen.
Diagnose
Im Gegensatz zu Computerspiel-Sucht ist Internet-Abhängigkeit derzeit noch nicht als eigenständige Krankheit im ICD-11 (eine Art offizieller Katalog der Krankheiten) gelistet. Die Aufnahme ist aber nur eine Frage der Zeit.
In der Zwischenzeit kann dafür die Diagnose „Abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle“ (F63.9) verwendet werden. Störung der Impulskontrolle bedeutet, dass der Süchtige seinen Drang und sein Verlangen nicht kontrollieren kann.
Symptome
- Online-Zeit: Der größte Teil der freien Zeit wird online/im Internet verbracht. Manche Experten sehen 35 h/Woche als Grenze.
- Dauer: Das süchtige Verhalten muss bereits über einen längeren Zeitraum (z. B. ein Jahr) andauern.
- Kontrollverlust: Der Betroffene hat über seine Internetnutzung keine Kontrolle mehr. Wenn er versucht, seine Online-Zeit zu reduzieren oder komplett aufzugeben ist er gescheitert. In den meisten Fällen ist dem Betroffenen bewusst, dass er die Kontrolle verloren hat.
- Toleranzentwicklung: Die Online-Zeit muss immer weiter gesteigert werden, um die Glücksgefühle zu erhalten.
- Entzugserscheinungen: Wenn er aus irgendeinem Grund nicht online sein kann, verspürt er psychische Beschwerden wie Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, ist gereizt und wird aggressiv.
- Craving: Der Süchtige hat ein unbändiges Verlangen nach Internet.
- Negative Konsequenzen: Familie, Freundschaften, Arbeit oder Schule leiden unter der exzessiven Internetnutzung. Trotz dieser Konflikte kann der Betroffene sein Verhalten nicht ändern.
Ursachen
Eine Internet-Sucht hat Ursachen in 3 Bereichen:
- In der Persönlichkeit des Süchtigen: Es gibt genetische Merkmale, die manche Menschen anfälliger dafür machen, eine Sucht zu entwickeln. Schüchternheit und soziale Ängste lassen sich online besser verbergen. Emotionale Instabilität begünstigt ebenfalls die Entwicklung einer Sucht. Fast alle Süchtigen leiden unter einer weiteren psychischen Erkrankung. Am häufigsten sind Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, ADHS und Angststörungen.
- In den Merkmalen von sozialen Medien, Computerspielen und Online-Angeboten: Praktisch alle Online-Angebote generieren direkt Einnahmen von den Nutzern oder indirekt durch deren Daten oder Werbung. Sie profitieren dadurch von langen und häufigen Online-Zeiten der Nutzer. Deshalb verwenden sie psychologische Tricks, um lange Verweildauer und häufiges Wiederkehren auszulösen. Diese Belohnungsmechanismen führen bei manchen Nutzern zu einer Internet-Sucht. Eine deutliche Steigerung von Internet-Sucht zeigte sich durch das Aufkommen der Smartphones: Damit waren Internet und Spiele plötzlich rund um die Uhr verfügbar.
- Familiäre Konflikte und die moderne Gesellschaft: Häufig entwickelt sich eine Sucht nach schweren Schicksalsschlägen oder großen Problemen in Familie und sozialer Umwelt. Dann schafft die Rückzugsmöglichkeit mit PC, Konsole oder Smartphone Erleichterung. Oft sind auch Eltern und Freunde keine guten Vorbilder und verbringen selbst besorgniserregend viel Zeit online.
Wann immer Internet-Süchtige sich überfordert, gestresst, einsam oder ängstlich fühlen, suchen sie online nach Ablenkung und Trost. Dann geraten sie in einen Teufelskreis: Sie ziehen sich immer mehr in ihr Online-Leben zurück und verschlimmern dadurch die Probleme, vor denen sie davonlaufen.
Begleiterkrankungen
Es ist selten, dass eine Internet-Sucht alleine auftritt.
- Über die Hälfte der Internetsüchtigen (52 %) leiden an einer Persönlichkeitsstörung. Paranoide tendieren zu Verschwörungstheorien und finden in Foren und auf YouTube viel Zustimmung und Bestätigung. Narzissten (und Narzisstinnen) erhalten in sozialen Medien die Gelegenheit, sich bedeutend zu fühlen. Ängstlich vermeidende (eine krankhafte Form der Schüchternheit) können im Internet Kontakte knüpfen, ohne der Person wirklich nahe zu sein.
- Depression oder Burnout (40 %) müssen wegen der Gefahr eines Suizids besonders beobachtet werden. Wenn wegen einer Depression die Kraft und Motivation für ein normales Leben nicht mehr reicht, bleiben Computer und Smartphone oft noch die letzten Fenster zur restlichen Welt. Bei dauerhaft gedrückter Stimmung und Freudlosigkeit, Schlafstörung, Appetit- und Interessenverlust sollten Sie sich jedenfalls professionelle Hilfe holen.
- Fast jeder vierte Internetsüchtige leidet zusätzlich an ADHS (23 %). Die für ADHS-Betroffene typische Impulsivität und das Verlangen nach starken Reizen lassen sich im Internet gut befriedigen.
Folgen
Eine Internet-Sucht hat Konsequenzen für die Psyche und den Körper des Süchtigen.
- Soziale Isolation und Einsamkeit: Je wichtiger das virtuelle Leben in sozialen Netzwerken und Computerspielen wird, desto unwichtiger wird das echte Leben mit seinen Freundschaften und sozialen Beziehungen. Meistens bemühen sich Gleichaltrige, Partner oder Eltern anfangs noch sehr, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Am Ende geben sie auf – auch weil sie nicht sehen, dass die Sucht das eigentliche Problem ist. Dem Süchtigen bleiben nur noch seine Online-Kontakte.
- Depressionen. Rund 40 % der Süchtigen leiden an einer Depression. Es ist wichtig, das möglichst früh zu erkennen und professionelle Hilfe zu holen – auch damit Sie sich später keine Vorwürfe machen müssen. Rund 15 % der schwer Depressiven nehmen sich das Leben.
- Leistungseinbruch in Schule, Arbeit oder Studium. Je wichtiger die Online-Welt wird, desto mehr muss die echte Welt hinten anstehen. Durch den Schlafmangel wird es schwierig, sich in der Schule zu konzentrieren. Hausarbeiten nur mehr selten erledigt. Das echte Leben erscheint langweilig im Vergleich zum Internet. Viele Internetsüchtige brechen Schule oder Studium ab. Erwachsene verlieren oft ihren Arbeitsplatz, besonders wenn sie während der Arbeitszeit mehrmals beim privaten Surfen erwischt werden.
- Als Folge von Schulabbruch und Jobverlust entstehen finanzielle Schwierigkeiten, Armut und Existenzprobleme drohen.
- Entwicklung weiterer psychischer Störungen: Über 90 % der Internetsüchtigen leiden unter einer zweiten psychischen Störung. Manchmal wird diese erst von der Sucht ausgelöst, immer werden bestehende psychische Störungen durch eine Sucht verschlimmert. Die häufigsten sind: Persönlichkeitsstörungen, ADHS, soziale Phobie.
- Körperliche Schäden: Süchtige vernachlässigen fast immer Hygiene, Körperpflege und Selbstfürsorge. Oft sind Übergewicht oder Unterernährung (vorzugsweise mit Fastfood) zu beobachten. Der Mangel an Bewegung oder gar Sport zeigt sich auch in einer verkümmerten Muskulatur und Haltungsschäden. Auch Kurzsichtigkeit (bei Kindern), trockene Augen und Sehnenscheidenentzündungen kommen vor.
- Schlafstörungen entstehen einerseits durch einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus (surfen/chatten/spielen bis spät in die Nacht), andererseits durch das Blaulicht der Bildschirme, die die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin behindern.
Selbsthilfe
Bei leichten Fällen von Internet-Sucht ist es noch einen Versuch wert, selbst zu helfen – besonders wenn der Betroffene einsichtig und motiviert ist. Es gibt Ratgeber für Digital Detox oder Medienfasten. Eltern oder Partner können durch geschicktes Ansprechen die Motivation erhöhen.
Noch mehr Erfolg versprechen Tools aus der Verhaltenstherapie, die auch von Laien eingesetzt werden können:
- Belohnungspläne: Hier versucht man positives Verhalten mit Belohnungen zu verstärken. Man hofft, dass wünschenswertes Verhalten sukzessive gelernt wird und süchtiges Verhalten ersetzt.
- Die Kosten-Nutzen-Analyse: Dabei werden Ursachen und Motive für die Sucht ergründet und den negativen Folgen gegenübergestellt.
Die beiden Techniken finden Sie als kostenloser-Download auf der Selbsthilfe-Seite für Eltern.
Eine kleine Warnung: Fast schon reflexartig versucht man, mit generellem Computerverbot und technischen Hindernissen (Handyentzug, Router verstecken, Accounts löschen) eine Lösung zu erzwingen. Machen Sie das nicht. Es funktioniert nicht. Stattdessen müssen Sie erst versuchen, ein Freizeitangebot und Hobbys im echten Leben aufzubauen.
Professionelle Hilfe
Bei schweren Fällen ist es besser, sich professionelle Hilfe zu holen. Gute erste Ansprechpartner sind Ihr Hausarzt oder eine Suchtberatungsstelle in der Nähe. Diese werden Sie ggf. weitervermitteln.
Für eine Therapie gibt es einerseits Psychologen, die sich auf Internet- und Computerspiel-Sucht spezialisiert haben. In seltenen Fällen kann ein stationärer Aufenthalt in einer speziellen Suchtklinik sinnvoll sein. Der Aufenthalt dort dauert zwischen 6 und 12 Wochen. Der schnellste Weg dürfte aber meine Online-Beratung sein.