Arte Doku: Game Over | Videospiele erobern die Welt | offline

Computerspiele sind heute Teil unserer Kultur. In der Dokumentation Game Over zeigt der Sender Arte, wie aus einem kleinem Hobbyprojekt eine riesige Gemeinschaft entwickelt hat, die ihren Platz in Industrie und Museen bekommen hat.

Chinesische Hacker, Software-Entwickler und eine Psychologin. Sie haben eine Gemeinsamkeit – sie sind alle Teil einer Kulturwelt, die sich zur größten Gemeinschaft der Welt entwickelt hat. Die folgerichtig ihren Eingang in Wirtschaft und die Museen der Welt gefunden hat.

Computerspiele sind Teil unserer Kultur

Etienne nimmt als Vorsitzender der Beobachtungsstelle für digitale Medien eine Schlüsselstelle für Kultur und Wirtschaft ein. Er analysiert seit 10 Jahren die Auswirkungen von Videospielen auf unser Leben. Sein Job ist es, Dinge zu bemerken, die wir nicht oder nicht mehr sehen.

„Im vergangenen Jahrhundert galten Videospiele als etwas primitive oder beschränkte IT-Gadgets, die uns ein paar Augenblicke Zerstreuung zuhause oder in der Spielhalle bescherten.“

Etienne-Armand Amato, Vorsitzender Beobachtungsstelle für digitale Medien

In den letzten 50 Jahre hat sich viel verändert. Die Geschichte der Computerspiele beginnt 1958. Damals erfindet der amerikanische Forscher William Higinbotham auf seinem Oszilloskop ein Spiel, das an Tennis erinnert. Sein Ziel: die Besucher am Tag der offenen Tür in seinem Labor für Nuklearforschung zu unterhalten.

Der Siegeszug der Computerspiele beginnt. Die Technologie ermöglicht es fortan durch leistungsfähigere und massenhafte Verbreitung von Hardware, dass Videospiele für die Allgemeinheit interessant werden.

Computerspiele erobern die Wohnzimmer

Die Spiele werden besser und einfacher zu bedienen. Aus den Spielhallen kommen sie Schritt für Schritt in die Wohnzimmer. Als PC oder als Konsole. Der Fernseher bekommt eine neue Funktion: Spielen. Auch die Spielfiguren ähneln uns immer mehr. Aus dem abstrakten Schläger und Ball werden niedliche Tiere und Männchen, mit denen wir uns identifizieren können.

„Videospiele haben uns auf unsere heutige künstliche Welt gut vorbereitet. Seit den Anfängen der Informatik diente das Spiel dazu, zu experimentieren und die Leistungsfähigkeit der Maschinen und Computer zu entdecken.“

Etienne-Armand Amato, Vorsitzender Beobachtungsstelle für digitale Medien

Neue Konsolen und Computer, Gamepads, Joysticks, Lenkräder, Touchscreens, Bewegungssensoren werden von der Videospiel-Industrie sofort genutzt. In manchen Bereichen ist die Spiele-Industrie der Treiber, der die Verbesserungen der Eingabegeräte erst vorantreibt.

Das Internet vernetzt die Spieler

Der größte Umbruch passiert jedoch durch das Internet. Vernetzte Computer öffnen uns Türen zu einer neuen Welt.

„Um die Jahrtausendwende traf das Videospiel auf das Internet und dessen Leistungsfähigkeit. Plötzlich gab es die Möglichkeit, zu jeder Tageszeit andere Spieler zu treffen und eine parallele Wirklichkeit aufzubauen.“

Etienne-Armand Amato, Vorsitzender Beobachtungsstelle für digitale Medien

So können ehemals isoliert Spielende in ihrem Wohnzimmer Gleichgesinnte in der ganzen Welt online treffen. Sie teilen ihre Abenteuer und ziehen zusammen durch immer größere Landschaften. Sie erobern gemeinsam die virtuellen Welten.

„Dieser digitale Urknall lässt unzählige virtuelle Welten entstehen. Zum ersten Mal kann die Menschheit live zu mehreren, auf simulierte und realistische Weise mit erfundenen Wirklichkeiten, Fantasien und bisher unbekannten Welten experimentieren.“

Etienne-Armand Amato, Vorsitzender Beobachtungsstelle für digitale Medien

Moderner Goldgräber in World of Warcraft

Zain ist mit 25 Jahren schon einer der meistgesuchten Hacker in World of Warcraft. Er ist einer der 100.000 Menschen, deren Beruf durch die modernen Online-Rollenspiele entstanden ist. Er und sein Team sind Goldfarmer.

Ihre Arbeit ist, Tag und Nacht computerzuspielen. Dabei ernten sie virtuelle Goldstücke. Mit dieser Währung kann mit ingame Vorteile erkaufen, die den Spieler in der Welt weiterkommen lassen. Dabei kauft sich Zain diese Gegenstände nicht selbst. Für ihn ist es besser, die virtuellen Goldstücke für echte Dollars an andere Spieler zu verkaufen. Und der Handel floriert.

World of Warcraft ist das zurzeit beliebteste Online-Rollenspiel. Mehr als 10 Millionen Spieler durchstreifen Woche für Woche zusammen die Spielwelt. Darunter sind Männer und Frauen, im Durchschnitt über 25 Jahre alt. Mit jeder Minute in der Spielwelt wird ihre Spielfigur, der Avatar, stärker. Wenn es schneller gehen soll, helfen sie mit Zains Goldstücken nach. Denn ein starker Held ist nicht nur mächtiger in der Spielwelt. Auch das soziale Ansehen steigt. Die Goldstücke steigern auch das Ansehen unter den anderen Spielern. Auch darum geht es in diesem Geschäft.

„Wir Goldfarmer spielen wie alle anderen auch. Tatsächlich aber entnehmen wir der virtuellen Welt Material. Manches davon ist viel wert und wenn wir geschickt sind, bekommen wir einen guten Preis dafür. Bei jedem Schlag frage ich mich: Bringt mir dieses Monster den Superjackpot meiner Träume ein? Und ich schlage und schlage und bete, dass ich so viele Goldstücke wie möglich bekomme. Und wenn es klingelt, ist mein Glück perfekt. Ich denke nur daran. Es ist wie beim Glücksspiel.“

Zain Zheng Xin, Goldfarmer in World of Warcraft

Den Spieleherstellern sind die Goldfarmern ein Dorn im Auge. Schließlich schmälern die Hacker mit ihren Umsätzen den Gewinn. Weil sie ihren Kunden unfaire Vorteile verschaffen, wehrt sich auch die Spiele-Community gegen sie.

Goldfarming: vom chinesischen Staat geduldet

Der chinesische Staat hingegen stört sich nicht an diesem Glückspiel. Der Umsatz der illegalen Goldgeschäfte wird auf eine Milliarde Dollar pro Jahr geschätzt. Von dieser gigantischen Summe bekommen die Goldfarmer nur einen kleinen Teil. Sie sind am Ende der Nahrungskette, für sie bleiben im Monat nur 300 Dollar pro Kopf übrig. Dafür schürfen sie wie virtuelle Bergarbeiter mit ihren Online-Avataren mehr als 10 Stunden täglich, 6 Tage in der Woche Gold in der Onlinewelt.

Die Psychologin Vanessa ist 28 und forscht seit Jahren zu Computerspielen. Deshalb ist sie nach Tokyo zur Gameshow gereist. Die internationale Gaming-Messe ist die perfekte Gelegenheit für Feldstudien.

„Unsere Arbeit bringt keinen Spaß. Sie ist langweilig. Wir tun nichts als Monster zu schlagen. Wir schlagen zu und schlagen zu. Wieder und wieder.“

Zain Zheng Xin, Goldfarmer in World of Warcraft

Japan – Mutterland von Mario und Zelda

Japan ist ein Land mit großer Spieletradition. Unternehmen wie Sony, Nintendo und Square Enix haben mit Super Mario, Zelda und Final Fantasy maßgeblich zu Entwicklung der modernen Computerspiele beigetragen. In Japan kennt ihre Spiele jedes Kind. Auch die technologischen Errungenschaften der Spieleindustrie sind mit den Unternehmen verknüpft. Super Nintendo und Playstation fanden ihren Weg in die Kinderzimmer weltweit.

„Videospiele liefern uns den spielerischen Aspekt, den wir heute brauchen. Weil wir in einer Welt mit vielen Verpflichtungen und wenig Befriedigung leben. Deshalb sind solche Zufluchtsorte wichtig. Die ständige Flut an Informationen macht es schwer, wichtiges herauszufiltern und unseren Platz in der Welt zu finden.

Also suchen wir uns eine Welt, die unseren Idealen und Werten entspricht. Das interessante an Videospielen ist, dass wir sehr lange konzentriert bleiben. Alles andere, die Zeit und den Ort, an dem wir sind, können wir kurzzeitig vergessen. Weil wir in eine Welt eintauchen, die uns auf jede Aktion gleich Feedback gibt. Einen Teil der eigenen Welt beherrschen zu können scheint für immer mehr Menschen lebensnotwendig zu werden.“

Vanessa Lalo, Psychologin

Computerspiele ohne Geld, Wettkampf oder Zerstörung

Chen, 31 Jahre, ist zum Star unter den Spieleentwicklern geworden. Seine Spiele werden von der Konkurrenz bis ins Detail analysiert, um das Geheimnis hinter den Spielprinzipien zu entdecken. Vor 8 Jahren verließ er seine Heimat Schanghai, um sein Studium in Los Angeles zu beenden. Danach widmete er sein Leben der Entwicklung von Computerspielen.

„Computerspiele sind ein Hilfsmittel, ein Werkzeug. Ich nutze sie, um mit dem Spieler zu kommunizieren. Als ich an Flower gearbeitet habe, machte ich eine interessante Erfahrung. Ich fuhr über den Freeway, der am Stadtrand verläuft. Da sah ich zum ersten Mal diese endlose grüne Hügellandschaft. Und auch einen Windpark. Da dachte ich mir: Diese Landschaft ist sehr schön.

Ich wollte sie festhalten, machte ein Foto. Aber der Winkel der Linse war so eingeschränkt, dass ich nur einen Ausschnitt davon festhalten konnte. Es war ähnlich wie hier am Strand, ich befand mich mitten auf einer gigantischen Wiese. In Videospielen können wir Landschaften am natürlichsten festhalten. Denn dort bestimmt der Spieler den Ausschnitt selbst.

In Flower kann der Spieler fliegen. Er kann jede einzelne Blume im Detail betrachten. Und er fliegt auf Höhe des Grases, was wir Menschen nicht können.“

Jenova Chen, Creative Director Thatgamecompany

Chens Spiele sind anders. Es gibt nicht zu zerstören. Es gibt auch kein Geld oder Gold zu verdienen. Im Spiel Flower etwa steuert der Spieler ein Blütenblatt. Seine Aufgabe ist, durch die Welt zu fliegen und sie schöner zu machen. Was banal klingt, hat durch künstlerischen Anspruch und Innovation 2012 die Aufnahme in das New Yorker Museum für moderne Kunst geschafft.

„Ich denke, Videospiele sind im Moment das Medium, das dem Leben am nächsten kommt. In der virtuellen Welt haben wir die Handlungsmacht, können Entscheidungen treffen und Beziehungen aufbauen. Im Kino können wir uns den Film anschauen aber es gibt keine Interaktion.“

Jenova Chen, Creative Director Thatgamecompany

Super Mario schlägt George Clooney

Mittlerweile ist die Computerspiel-Industrie größer als Hollywood. Mit 60 Milliarden Jahresumsatz und weiter steigenden Umsätzen haben sie Film und Kinos abgehängt. Super Mario und Link überstrahlen George Clooney und Scarlett Johansson.

Die Beziehung zwischen Spielern und ihren Avataren ist viel inniger, als es zu den Leinwandakteuren je sein könnte. Darauf führt die Psychologin den Erfolg der Computerspiele zurück. Um diese Beziehungen zu erforschen, ist die Tokyo Gameshow eine echte Goldmine.

„Die Leute können jahrelang dasselbe Videospiel spielen. Mit neuen Änderungen und Erweiterungen wird es möglich zu bauen, wieder neu zu bauen und sich zu erfinden. Immer gleich und doch immer anders. Was die Spieler von Final Fantasy oder World of Warcraft erleben ist einmalig in unserer Geschichte. Der Zerrspiegel des Avatars erlaubt es dem Spieler, heldenhafte Geschichte und Abenteuer zu erleben. Beim nächsten Einloggen findet sich der Spieler so wieder, wie er aufgehört hatte. Er kann sich eine digitale Geschichte aufbauen, sich testen und experimentieren.“

Vanessa Lalo, Psychologin

Sein eigener Held sein

Im Cosplay machen Spieler genau das: Sie schlüpfen in die Haut ihres Avatars. Dazu kaufen oder nähen sie sich selbst Kostüme, schminken sich wie die Spielfiguren und kommen oft dem Original erstaunlich nahe. Die Subkultur hat ihren Namen aus den Wörtern Costume (für Verkleidung) und Play (für Spielen).

Erste große Anhängerzahlen erlebte Cosplay in den 90ern in Japan. Das Phänomen hat sich weltweit verbreitet, es gibt Cosplay-Messen in Städten wie Paris oder Berlin, in denen sich Zehntausende Anhänger treffen.

„Mein Avatar stammt aus dem Spiel Final Fantasy. Ich finde, der Charakter dieser Figur hat Ähnlichkeiten mit mir. Meine Freunde sagen mir oft, ich würde ihr stark ähneln. Das hat mich dazu gebracht, die Figur der Sarah zu werden. Je mehr Cosplay ich mit dieser Figur mache, desto größer wird die Spannung in mir. Wenn ich Waffen in die Hand nehme, kommt es mir wirklich so vor, als könnte ich wer anderes sein.“

Unbekannt, Cosplayerin

„Es ist, also kämen sie so Geschichte und Charakteren noch näher. Und könnten die Grenze zwischen Realität und Videospiel weiter auflösen.“

Vanessa Lalo, Psychologin

„Ich habe fast das Gefühl, als könnte ich selbst diese Superkräfte haben.“

Unbekannt, Cosplayerin

Yoshinori arbeitet an der beliebtesten Rollenspiel-Serie Japans mit: Final Fantasy. Als Verantwortlicher für das Konzept des Spiels ist er einer der herausragenden Persönlichkeiten in der Entwicklung von Online-Rollenspielen.

Die Schwierigkeiten der Eltern

„Mein Sohn spielt viel auf seiner Playstation Portable und liebt es, seinen Avatar zu steuern. Es kommt vor, dass er stundenlang spielt und völlig vergisst zu arbeiten.

Seine Mutter ärgert sich dann manchmal, sie möchte, dass er sich um seine Hausaufgaben kümmert, bevor er spielt. Neulich hat sie ihn angeschrien: „Hör auf zu spielen und geh lieber arbeiten“. Dann hat sie die Playstation zertrümmert. Ich habe ihr gesagt, diese Reaktion ist keine Lösung. Er wird sowieso nicht mehr gehorchen.

Kitase Yoshinori, Produktentwickler Square Enix

Damit spricht er eine wichtige Erkenntnis an. Eltern kann der Computerspielkonsum ihrer Kinder völlig entgleiten. Dann wird es Zeit, professionelle Hilfe zu holen. Der Entwickler hat für seinen Sohn bisher noch eine funktionierende Lösung gefunden.

„Seitdem sage ich immer, wenn er nicht gehorchen will: „Hör‘ auf sonst lösche ich alle deine Daten.“ Die digitalen Daten eines Avatars sind auch für ein Kind etwas, in das es sich enorm einbringt und viel Zeit investiert. Wenn ich sehe, wie mein Sohn reagiert, merke ich, wie mächtig die Emotionen sind, die er mit seinem Avatar verbindet.“

Kitase Yoshinori, Produktentwickler Square Enix

Zwischen exzessivem Spiel und Abhängigkeit gibt es nur einen schmalen Grat. Die Spielehersteller versuchen nicht nur aus Nächstenliebe, ein Spielerlebnis zu bieten, das zum Weitermachen motiviert.

„Die Menschen sind Nomaden. Und seit den Anfängen der Menschheit haben Migrationsströme die Umwelt gestaltet. Mit den virtuellen Welten schaffen wir eine neue Form der Migration. Wir wechseln von einer Welt in die andere. Es kann passieren, dass Menschen zu Millionen aus einer Welt flüchten, die ihr nicht mehr gefällt. Sie erfinden dann einen neuen Avatar in einer neuen Welt.“

Kitase Yoshinori, Produktentwickler Square Enix

Spieler bei der Stange halten

Für die Spielehersteller sind weiterziehende Massen an Spielern ein Problem. Wenn 100.000 Spieler wegziehen, dann sind das ebenso viele Accounts über 20 € und damit 2.000.000 € pro Monat die wegfallen. Um einen Spieler an sich zu binden, kann sich ein Publisher unterschiedlicher Strategien bedienen.

„Er kann die Spielregeln erneuern, sie etwas verändern, er kann die Welt vergrößern, eine neue Region erschaffen. Er kann auch als Folge einer Katastrophe die Umwelt verwandeln, ein neues Szenario erschaffen, in dem bereits bekannte Orte neu entdeckt werden. Er kann neue Monster einführen, auf das soziale Gefüge einwirken, indem er die Abhängigkeit der Spieler voneinander verstärkt.“

Etienne-Armand Amato, Vorsitzender Beobachtungsstelle für digitale Medien

Steigende Umsätze überall

Die Umsatzzahlen für Online-Computerspiele steigen seit Jahren steil nach oben. 100 Mio. Spieler können aus über 300 aktuellen Spielen wählen. Deshalb laufen auch die Geschäfte von Zain und seinen Goldfarmern weiter gut.

Um noch mehr Gold zu schürfen hat er in Bots investiert. Die soll helfen, große Teile des Goldsammelns automatisieren. Dann sind die Spieler nur mehr zum Überwachen dieser Autopiloten nötig.

„Die Gesellschaft der 60er und 70er Jahre und die von heute sind zwei unterschiedliche Welten. Ich glaube die Leute haben keine Ahnung davon, wie man mit Videospielen Geld verdienen kann. Denn sie spielen sie nicht und verstehen die moderne Welt deshalb auch nicht. Bestenfalls wissen sie, dass man damit Kohle machen kann. Aber wie ist ihnen nicht klar.“

Vanessa Lalo, Psychologin

Der Markt für die virtuellen Goldstücke aus World of Warcraft hat sich professionalisiert. Nach dem Vorbild der echten Finanzmärkte wurde eine Handelsplattform errichtet. Die Händler können ihre Geschäfte dort anbahnen, für virtuelle Goldstücke werden Kurse in Echtgeld errechnet, jede Stunde neu.

Tauschgeschäfte in diskreten virtuellen Ecken

Zu den wichtigsten Regeln in Online-Rollenspielen gehört, dass die Spieler untereinander Gegenstände tauschen können. Deshalb ist es für die Hersteller auch so schwer, illegale Geschäfte zu unterbinden. Dieses System nutzen die Goldfarmer. Sie übergeben die Goldstücke in einer diskreten Ecke innerhalb des Spiels, nachdem der Empfänger mit Kreditkarte gezahlt hat.

„Im Moment arbeiten wir von 22.00 Uhr bis mittags für 2000 Kunden. Hast du denn Goldmünzen, die Du mir verkaufen willst?“

Alon Yeeh, Dealer von World of Warcraft-Goldmünzen

Um seine Goldstücke loszuwerden, arbeitet Zain immer mit derselben Trading-Firma zusammen. Dabei bleiben ihm vom Verkaufspreis rund 20 %. Die restlichen 80 % behält der Wiederverkäufer, Alon. Er profitiert vom Goldfarming am meisten.

„Ein Spieler, der zu uns kommt, hofft, stärker zu werden. Mehr magische Kräfte zu bekommen. Er will die anderen übertreffen können. Häufig besitzt er aber nicht die Fähigkeiten, alleine die begehrten Kräfte zu bekommen und noch nicht einmal alle Güter, die sein Avatar braucht. Also ist er bereit, dafür zu bezahlen.“

Alon Yeeh, Weiterverkäufer von World of Warcraft-Goldmünzen

Stärker, höher, schneller

Seinen Avatar immer stärker und mächtiger zu machen ist das grundlegende Spielprinzip der Online-Rollenspiele. Neue Rüstungen, Waffen und das Besiegen immer stärkerer Gegner sind die Elemente, die Glücksgefühle auslösen.

„Das Spiel bereitet ein echtes inneres Wohlbefinden. Von Anfang an ist alles so angelegt, dass du möglichst lange spielst und jahrelang bei deinem Avatar bleibst. Die Spieler denken: Wenn es schon nicht im echten Leben möglich ist, dann wenigstens im Computerspiel. Und sie bezahlen.“

Alon Yeeh, Weiterverkäufer von World of Warcraft-Goldmünzen

PC-Boxen statt Spielhöllen

Die Psychologin Vanessa hat inzwischen genug von der Gaming-Messe gesehen. Sie will sich nun die Orte ansehen, in denen die vielen Spieler tatsächlich spielen. Die traditionellen Spielhallen mit ihren großen Spielautomaten sind eher historische Überbleibsel. Eine Attraktion für westliche Touristen, bei den Japanern kommen sie immer schlechter an. Online-Spiele passen nicht zu den klobigen Automaten.

Heute treffen sich die Jugendlichen in den Manga-Kissa, auch Manga-Cafés. Eigentlich wären das Orte, in denen man Mangas lesen kann. Gelockt werden die Jugendlichen aber durch die mietbaren Boxen mit Hochleistungscomputern. Wer will, kann hier stundenlang ungestört und ungesehen spielen, sogar schlafen. Der ideale Ort für die Online-Rollenspieler.

Echte Gefühle in der virtuellen Welt

Wer sich so lange mit einem Computerspiel beschäftigt, kann sich schwertun, virtuelle und reale Welt und Emotionen auseinanderzuhalten.

„Als ich Student war, habe ich wirklich jeden Tag ein Online-Spiel namens Final Fantasy 11 gespielt. Ich hatte eine sehr starke und besondere Beziehung zu meinem Avatar. Ich schäme mich etwas, das zuzugeben aber es kam vor, dass ich mich in die Personen, mit denen ich spielte wirklich verliebte. In einen anderen Avatar. Allerdings wurde ich abgewiesen.“

Unbekannt

So nimmt der Avatar einen enorm wichtigen Platz im Leben des Spielers ein. Deshalb ist bei Computerspiel-Sucht auch problematisch, wenn die Verbindung zum Spiel plötzlich und abrupt beendet wird.

„Als ich täglich spielte, identifizierte ich mich stark mit meiner Figur. Ich führte sogar einen Blog über ihn, wie ein Logbuch. Ich muss zugeben, dass das Computerspiel eine Zeit lang einen großen Platz in meinem Leben eingenommen hat. Inzwischen erlaubt mir mein Berufsleben solche Exzesse nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr so drauf einlassen wie früher.“

Unbekannt

„Ob als Zuschauer, als Akteur oder als er selbst. Ein Spieler kann sich heute selbst steuern und sich dabei betrachten. Sich in einem externen Körper darstellen, das eigene Bild in einem virtuellen Spiegel gestalten. Sich selbst erzählen und dabei Spuren hinterlassen.“

Vanessa Lalo, Psychologin

Computerspiele ändern Freizeitgewohnheiten einer Gesellschaft

Für viele überraschend liegt das Durchschnittsalter der Spieler in Japan wie in Europa bei über 30 Jahren. Heute gibt es Spiele für alle Altersgruppen, alle Ansprüche, alle Berufsgruppen und alle Sehnsüchte. Die jüngsten Studien zeigen, dass die Spieler im Schnitt 12 Stunden pro Woche ihrem Hobby nachgehen. Diese kulturelle Revolution stellt Gewohnheiten auf den Kopf, die als unumstößlich galten.

„Wir loggen uns in das Spiel ein wie sich andere vor den Fernseher setzen. Wir loggen uns lieber ein, als den Abendfilm zu sehen, sprechen dabei mit unseren Freunden und erzählen ihnen von unserem Tag. Wir wollen eine sympathische Gilde sein und suchen uns reifere Spieler aus, die gerne etwas gemeinsam tun.“

Unbekannt

Computerspielen kann, entgegen gängiger Vorurteile, auch eine positive soziale Komponente haben. Es gibt Erzählungen von Paaren, die sich in Online-Spielen kennengelernt haben.

„Das hat uns schon einige Bekanntschaften beschert. Ich habe so z. B. meinen Freund kennengelernt, mit dem ich inzwischen in dieser Gilde zusammenlebe. Ich bin nicht die Einzige. Ich finde, das sind schon außergewöhnliche Begegnungen. Wir sind vor allem Paare, die sich beim Spielen zusammen entdeckt haben.

Dazu kamen Freunde aus dem wahren Leben, aber auch Freundschaften, die während der Abenteuer entstanden sind. Wir treffen uns auch im echten Leben um essen zu gehen oder in den Urlaub zu fahren. Es gibt für mich keinen Unterschied zwischen den Menschen, denen ich im Spiel begegnet bin und Anderen, die ich von der Uni kenne.“

Unbekannt

„Bei vielen Online-Spielen muss man ein Team bilden, um erfolgreich zu sein. Die Spieler müssen sich verbünden. Sie gründen feste Gruppen mit verabredeten Zeiten. Und wenn einer mal fehlt, bekommt er Vorwürfe zu hören, kann sogar ausgeschlossen werden. Es gibt eine echte Online-Verbundenheit, die dazu führt, dass die Leute vernetzt bleiben. Zum Teil nur aus Freundschaft – weil das die einzige Möglichkeit ist, die Beziehung aufrecht zu erhalten.

Etienne-Armand Amato, Vorsitzender Beobachtungsstelle für digitale Medien

Es gibt ein echtes gesellschaftliches Leben innerhalb des Spiels. Aber auch außerhalb des Spiels im Internet, auf das Spiel bezogen. Sie verbringen einen schönen Abend mit ihren Freunden im Spiel. Am nächsten Tag erzählen sie dann auf einer Website, was passiert ist. Sie laden Screenshots, Fotos und Videos hoch. Es ist eine komplett neue Möglichkeit zu sein, zu leben und Spaß zu haben.“

Hetzjagd auf Goldfarmer

Die Goldfarmer hingegen werden von den normalen Spielern nicht gern gesehen. Viele Spieler betrachten das Geschäftsmodell als moralisch verwerflich. Weil es in manchen Spielen erlaubt ist, dass sich die Spieler gegenseitig umbringen, ist es dort auch möglich, Jagd auf die Goldfarmer zu machen. Manchmal organisieren sie sich für regelrechte virtuelle Hetzjagden. Für den Goldfarmer ist das dann kein Spiel mehr. Für ihn steht viel auf dem Spiel.

„Wenn sie uns umbringen, kommen die Spieler schneller voran. Sie erhalten Ruhmpunkte und sind glücklich. Vor allem aber hassen sie uns. Sie versuchen, uns Goldfarmer anzugreifen und umzubringen.“

Zain Zheng Xin, Goldfarmer in World of Warcraft

Die Goldfarmer und ihre Bots sind leicht, zu erkennen, weil sie stumpf und über einen langen Zeitraum einfach die effektivste Methode verwenden, um an die begehrten Goldstücke zu kommen. Deshalb kursieren auf YouTube Videos wie man sie erkennen und am besten jagen kann.

Erfolgreiche Jäger sind stolz auf ihre Siege über die Goldfarmer. Den Spiele-Herstellern sind solche Beutezüge eher genehm, die Mitspieler finden es ebenfalls gut. Zain treibt das Sorgenfalten auf die Stirn.

„Wenn einer unserer Avatare stirbt, sinkt unser Umsatz an Goldmünzen deutlich. Unser Ertrag bricht ein.“

Zain Zheng Xin, Goldfarmer in World of Warcraft

Free2Play – mehr Ertrag durch Gratisspiele

World of Warcraft basiert auf einem Abo-Modell, der meiste Umsatz wird durch die monatliche Abrechnung der Abo-Gebühr mit den Spielern. Die Gebühr ist mit 12 € pro Monat gering.

Eine neuere und noch erfolgreichere Strategie der Hersteller ist, die Spiele Free2Play zu vermarkten. Der Zugang zum Spiel kostet nichts. Doch um voranzukommen müssen die Spieler Güter kaufen, Zugänge zu neuen Ebenen und die Berechtigung, weiter vorzudringen, gibt es nur gegen echtes Geld. Um möglichst profitabel zu sein, muss der Hersteller sein Spiel deshalb von den Goldfarmern befreien.

Wie sich das auf Spieler, Hersteller und die ganze Branche auswirkt, ist schwer abzusehen. Bei Spielern kommt Free2Play gut an, die extrem erfolgreichen Spiele Fortnite oder Leauge of Legends basieren auf diesem Vertriebsmodell.

Es ist für die Spieler wichtig, dass Spielen günstig bleibt. Der geringe finanzielle Aufwand ist oft der Grund, warum Computerspielen den Platz anderer Hobbys einnehmen kann. Aber erst, wenn ein Spieler die Kontrolle über seine Spielzeit verliert, darf man von einer Sucht sprechen.

„Zuhause spielen ist sehr entspannend. Dazu kommt, dass du sehr wenig Geld ausgibst. Wenn du ins Kino gehst, gibst du viel Geld aus. Essen gehen ist teuer. Wenn du dir etwas kaufst, gibst du wieder Geld aus. Aber das Spiel kostet nicht viel. Es kann sein, dass du gar nichts ausgibst. Und trotzdem fühlst du die Freude, die es dir bringt.“

Zain Zheng Xin, Goldfarmer in World of Warcraft