ARD Video: Gamification | Planet Wissen

Auch außerhalb von Computerspielen suchen Wissenschaft, Wirtschaft und Pädagogik Wege, durch spielerische Elemente ungeliebte Aufgaben spannender zu machen: Gamification. Die ARD-Sendung Planet Wissen spricht mit Gamification-Experten und zeigt Beispiele im Alltag.

Warum spielt der Mensch? Mitte des Jahres wurde die ganze Welt von einem Spielevirus befallen. Pokémon Go. Viele waren von dem Spiel so fasziniert, dass es zu brenzligen Situationen gekommen ist.

So in Baltimore im Bundesstaat Maryland. Polizisten stehen vor ihrem Auto, als die Bodycam filmt, wie ein Auto ohne erkennbaren Grund ungebremst in das Polizeiauto fährt. Später stellt sich heraus, dass der Fahrer während der Fahrt Pokémon Go gespielt hat.

150 Millionen Pokémon Go-Spieler

Das war Mitte 2016 und nicht die einzige gefährliche Situation, in die sich Pokémon Go-Spieler auf der ganzen Welt gebracht haben. Auf der Jagd nach den virtuellen Monstern drohten sie von Hochhäusern zu stürzen, ins Wasser zu fallen oder von Autos überfahren zu werden.

Neben dem Spielen als Hobby soll zunehmend unser ganzer Alltag zum Spiel werden: Gamification. Doch warum will der Mensch eigentlich immer und überall spielen?

Spieltrieb zum Überleben

Schon Babys verbringen viel Zeit mit Aktivitäten, die nicht dem Überleben dienen. Auch die Älteren umgeben sich mit Objekten, die zu gar nicht nütze sind. Es scheinen nicht rationale Gründe zu sein, die den Menschen zum Spielen bringen. Er macht Dinge ohne produktive Absicht, strengt sich über Stunden an, ohne etwas zu erreichen.

Auch andere Säugetiere wie Hunde oder Katzen tun es. Gibt es biologische Gründe für unseren Spieltrieb? Ist es vielleicht ein schwer durchschaubares Gen-Programm? Aber wenn spielen gesund sein soll, warum gibt es so viele gefährliche und riskante Spiele? Warum gibt es langatmige Spiele mit wenigen Höhepunkten? Warum werden sie als große Rituale inszeniert, die auch noch hunderttausende Zuschauer anlocken wie eine Fußball-Weltmeisterschaft?

Spielen ist voller Widersprüche. Es soll Menschen glücklich machen, dabei sieht es wie harte Arbeit aus. Sieger zeigen keine Gnade, nutzen ohne Rücksicht ihre Chancen. Trotzdem finden es alle gut. Warum funktionieren Spiele?

Die Evolutionstheorie kommt zu dem Schluss, dass wir spielen, weil wir spielen müssen. Wir müssen lebenswichtige Fähigkeiten trainieren, weil wir sie nicht automatisch können. Es ist ein Trainingsprogramm, das in der Evolution entstanden ist.“

Prof. Thomas Junker, Evolutionsbiologe

Pokémon Go für die Evolution

Das Erfolgsgeheimnis von Pokémon Go? Es ist eine Mischung aus Jagen und Sammeln, etwas, das in der Evolution entscheidend wichtig war. Sich in unbekannten Gegenden zu orientieren, essbares suchen. Das hat Pokémon Go als Spielprinzip umgesetzt.

Deshalb spielen nicht nur Menschen, sondern alle intelligenteren Lebewesen: Vögel, Katzen, Hunde. Je intelligenter, desto mehr wird gespielt. Insekten hingegen spielen kaum.

Umgang mit Emotionen lernen

Ein Klassiker unter den Spielen ist „Mensch ärgere dich nicht“. Für Kinder kann es gut sein, spielerisch mit Niederlagen umgehen zu können. Selbst der Gewinner, der zu schadenfroh ist, kann lernen, dass er das nicht machen sollte. Wenn man das dann doch nicht lernt, hat man eben im realen Leben auch Nachteile.

„Das faszinierende im Spiel ist, dass es etwas aufgreift, das wir sonst hassen: Den Zufall und das Unbekannte. Es wird regelrecht erzeugt, die Karten, die Würfel. Im Spiel machen wir Dinge, die wir im realen Leben gar nicht machen wollen, weil es eine gefahrlose Situation ist. Das Spiel hat keine wirklichen Konsequenzen für das Leben.“

Prof. Thomas Junker, Evolutionsbiologe

Wenn Kindern die Möglichkeit zum Spielen fehlt, hat das Folgen. Aus Experimenten mit Rhesusaffen weiß man, dass sich soziale Fertigkeiten schlechter entwickeln. Die Affen waren zugleich aggressiver und ängstlicher als ihrer spielenden Artgenossen.

„Wer nicht spielt, lernt bestimmte Dinge im Leben nicht. Wie wenn sie nie zu klettern ausprobieren, können sie das später als Erwachsener auch nicht. Wenn sie nicht lernen zu verlieren können sie als Erwachsener dann dadurch auch Nachteile haben.“

Prof. Thomas Junker, Evolutionsbiologe

Dabei ist es wichtig, dass die Entwicklungen schon in der passenden Lebensphase starten. Nicht alles kann später aufgeholt werden. Wie bei der Sprache ist es besser, die Sprache schon von Anfang an zu lernen, eine Fremdsprache später zu lernen fällt uns bedeutend schwerer.

Computerspiele beeinflussen das Gehirn

Durch Smartphone und Tablet haben wir heute dauernd einen Spielpartner zur Stelle. Die Wissenschaft interessiert sich deshalb zunehmend für die Auswirkungen der Computerspiele auf das Gehirn.

Am Max Plank-Institut für Bildungsforschung wurden dazu Experimente durchgeführt. Sie ließen Versuchspersonen täglich Super Mario 64 spielen. Zwei Monate später wurde im Magnetresonanz-Topografen nach Veränderungen im Gehirn gesucht. Die Forscher wurden fündig: Das Gehirn der Computerspieler wuchs in gleich drei Regionen.

  • Im präfrontalen Kortex, der für strategisches Denken wichtig ist.
  • Im Kleinhirn, das für motorische Steuerung zuständig ist.
  • Im Hippocampus, wichtig für räumliches Vorstellungsvermögen.

Die Versuchspersonen wurden also durch das Computerspielen nicht dümmer. Im Gegenteil wurden bestimmte Fähigkeiten gefördert.

Gehirntraining?

Aufgrund solcher Ergebnisse hofft man, dass spezielle Videospiele sogar zum gezielten Aufbau von Fertigkeiten genutzt werden. Denkbar ist auch, sie dabei zu nutzen, um bei älteren Menschen den Abbau von geistigen Fähigkeiten hinauszuzögern.

In einem zweiten Experiment wurde genau das versucht. Senioren über 60 spielten ein simples Spiel namens Schiff ahoi. Das Spiel passte dabei den Schwierigkeitsgrad automatisch für jeden Spieler an. 8 Wochen lang spielten die Teilnehmer 30 Minuten am Tag. Auch hier konnte im MRT Gehirnwachstum bestätigt werden. Denkbar ist also ein Einsatz bei beginnender Demenz.

„Es gibt auch Spiele an Stellen, die wir auf den ersten Moment nicht vermuten. Die Grundlagenforschung ist z. B. auch wie ein Spiel. Da geht es nicht darum, direkt etwas Nützliches herauszufinden. Sondern man experimentiert rum und hofft, auf diese Weise neue Erkenntnisse zu finden.“

Prof. Thomas Junker, Evolutionsbiologe

Spieltrieb in einer spielfremden Umgebung

Gamification geht noch einen Schritt weiter. Hier versucht man, spielerische Elemente in eine Umgebung unterzubringen, die wir sonst nicht mit Spaß und Vergnügen verbinden. Das kann Fließbandarbeit oder der ungeliebte Abwasch zu Hause sein. Gamification nutzt unseren natürlichen Spieltrieb zu Motivationssteigerung. So können monotone und ungeliebte Aufgaben trotzdem Spaß machen.

Damit Gamification langfristig funktioniert, müssen mehrere Kriterien erfüllt sein.

  • Klare Ziele: Der Spieler muss immer neu herausgefordert werden.
  • Definierte Regeln: Er muss genau wissen, was von ihm verlangt wird.
  • Direktes Feedback: Je positiver das ausfällt, desto motivierender.

Gamification für mehr Umsatz

Erfinder des Begriffs Gamification ist der britische Computerspiel-Experte Richard Bartel. Obwohl schon 1978 als Konzept dargelegt, kommt Gamification erst in den letzten 5 Jahren in Schwung. Die amerikanische Industrie erhofft sich davon viel, und investiert 3 Milliarden Dollar dafür, den Spieltrieb auch für die Wirtschaft nutzbar zu machen. Die Unternehmen hoffen, mit Gamification die Motivation ihrer Angestellten zu erhöhen.

So versuchen Gamification-Experten wie Jörg Niesenhaus, bestehende Prozesse um spielerische Elemente anzureichern.

„Gamification ist nicht die eierlegende Wollmilchsau für alle Probleme. Aber in vielen Bereichen lässt sich Gamification gewinnbringend einsetzen. In der Produktion, in der sozialen Interaktion, in der Qualitätskontrolle… Es gibt Leute, die viel und Leute, die weniger spielen. Es gibt auch verschiedene Spielertypen, die jeweils anders angesprochen werden wollen. Es gibt nicht die eine Spielmechanik, die alle begeistert, man muss auf viele unterschiedliche Mechaniken setzen.“

Jörg Niesenhaus, Gamification-Experte

Klavierspielen beim Treppensteigen

Ein Praxis-Beispiel für Gamification ist Piano Stairs in Stockholm von 2009. Um die Menschen von der bequemen Rolltreppe zum gesünderen Treppensteigen zu bekommen, wurden die Treppenstufen in eine Klaviatur umgebaut. Beim auftreten auf jede Treppenstufe ertönte der passende Klavierton. Die Ergebnisse sprechen für sich: 66% der Rolltreppenfahrer ließen sich dadurch auf die Piano-Treppe locken.

Leider sind solche herausragenden Effekte meist nicht von Dauer. Wenn immer das gleich passiert, wird den Menschen schnell langweilig.

Eine dunkle Seite der Gamification

In der Arbeitswelt kann man den Gamification-Bogen leicht überspannen. So hat die Restaurant-Kette Applebee’s die spielerischen Elemente so eingeführt, dass dadurch ein dauerhaftes Spiel Jeder-gegen-Jeden wird.

„Unsere Herausforderung war, damit unsere extrem hohe Personalfluktuation zu bessern. Ständig neue Mitarbeiter einzuarbeiten ist sehr teuer. Außerdem wollten wir den Umsatz pro Kunde erhöhen. Dazu haben wir uns Missionen für die VerkäuferInnen ausgedacht. Sie sollen so motiviert werden, anstatt einfach nur Provisionen entgegenzunehmen.“

Robin Jenkins, Marketing Managerin

Mehr Verkäufe und Umsatz lässt den Mitarbeiter im Level aufsteigen. Dann steigt aber wiederum die Schwierigkeit, noch mehr Umsatz wird nötig. Mit dem Spiel versucht das Unternehmen vor allem Millennials anzusprechen

„Wir laufen natürlich ständig zum Bildschirm und schauen, wer führt, wir stacheln uns gegenseitig an. Ein kleiner, freundschaftlicher Wettkampf.“

Debbie, Kellnerin

Selbst für das Küchenpersonal wurden spielerische Elemente eingeführt.

„Die Manager können festlegen, welche Prozesse in der Küche verbessert werden sollen. Und dann täglich den Fokus auf einen Aspekt richten, z. B. die Sicherheit. Das Küchenpersonal soll dann melden, wenn ein Kollege die Vorschriften nicht befolgt. So kann man Sicherheits-Scout werden und bekommt dafür Punkte.“

Robin Jenkins, Marketing Managerin

Gamification im Unterricht

Der Pädagoge und Lehrer Daniel Jurgeleit bringt Gamification in den Schulalltag ein. Seine Deutschstunde funktioniert wie ein Computerspiel. Er berichtet von erstaunlichen Verbesserungen bei manchen seiner Schülern.

„Ich habe Schüler, die sich von einer Mündlichen 4 auf eine 1 vorgearbeitet haben weil sie sich gesagt haben: Ich will diese Punkte, ich mach alles mit und präsentiere alles – egal ob da noch Fehler dabei sind. Sie trauen sich einfach mehr.“

Daniel Jurgeleit, Pädagoge und Lehrer

In World of Classcraft kämpfen sie gegen Unholde und Drachen – dadurch dass sie ihre Aufgaben erledigen und Klassenarbeiten schreiben. Sie sammeln Erfahrungspunkte, wenn sie mitarbeiten und an die Spielregeln halten. Zur Belohnung steigen sie im Spiel dann zu mächtigen Helden auf.

Genau diese Belohnung macht die alltäglichen Aufgaben erträglicher. Neben dem Heldenaufstieg gibt es aber noch weitere: Essen oder Musikhören im Unterricht ist dann erlaubt, sogar Spickzettel in die Klassenarbeit mitnehmen. Spickzettel sind eine großartige Motivation.

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