3sat Video: Zurück ins reale Leben | Computersüchtige Jugendliche | nano

In Dortmund gibt es das erste Wohnheim für computersüchtige Jugendliche. Michael lebt seit einem halben Jahr hier. Der 16-Jährige hat sich für nichts mehr interessiert, weder für Schule, Sport noch Hobbys. Sein Leben spielte sich vor dem Computer ab.

Leider offline

„Ich hab‘ gespielt ohne Ende und bin da halt nicht mehr rausgekommen. Nachts nicht mehr schlafen gegangen weil ich durchgespielt habe. Bin nicht mehr zur Schule gegangen, habe meine ganzen sozialen Kontakte verloren.“

Michael, 16 Jahre

Die erste Wohngemeinschaft für Computerspiel-Süchtige

In dem Wohnheim in Dortmund leben zur Zeit 14 Jugendliche, alles Jungs. Sie alle besuchen eine Schule oder machen eine Ausbildung. Und machen eine Therapie, denn sie wollen von ihrer Computerspiel-Sucht loskommen. Das dauert. Ein Aufenthalt im Wohnheim planen sie mit 1 bis 2 Jahren. Es braucht viel Zeit, um wieder einen normalen Umgang mit dem Computer zu erlernen.

„Wir setzen auf Kompetenz und nicht auf Abstinenz. Wir sind der Meinung, dass Medien aus dem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken sind. Dass in ganz vielen Bereichen Medien benutzt werden – sei es bei Online-Bewerbungen oder in Schulen. Letzten Endes geht es auch darum, wieder eine Medienkompetenz zu erlernen.“

Magnus Hofmann, Therapeut

Menschen nutzen Computer und die Spiele unterschiedlich lange und intensiv. Es kann auch Phasen geben, in denen manche mehr spielen und trotzdem von alleine wieder loskommen. Wenn das nicht gelingt, hat die Sucht eine tiefere Ursache.

„Es ist so, dass viele betroffen sind, die in der realen Welt Konflikte erlebt haben, Ausgrenzung erlebt haben. Die haben dazu geführt, dass ihr Selbstwert angegriffen ist, sie im schlimmsten Fall depressiv werden.

Auch die Selbstsicherheit kann angegriffen sein, sie entwickeln eine soziale Phobie, eine Angststörung. Das heißt, eher ängstliche, schüchterne Menschen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, suchen das manchmal im Internet.“

Bert te Wildt, Psychologe, Ruhr-Universität Bochum

Die Welt der Süchtigen verstehen

Deshalb ist es wichtig, dass sich die Psychologen auf die Welt der Jugendlichen einlassen. Sie müssen verstehen, warum für diesen individuellen Menschen die virtuelle Welt so viel verlockender ist als die Reale.

In der Therapie lassen sich die Psychologen auf die Welt der Jugendlichen ein, um zu verstehen, warum sie die digitale Welt der realen vorziehen.

“Es ist sehr wahrscheinlich ein Fluchtverhalten gewesen aus der realen Welt. Dass man abtauchen kann und der sein kann, der man möchte. Stark, gut aussehend und nicht der, der man in Wirklichkeit ist.“

Michael, 16 Jahre

Kampf um Anerkennung der Computerspiel-Sucht

Aus Sicht der Krankenkassen ist Online- oder Computerspiel-Sucht noch keine offizielle Krankheit (Stand 2017). Deshalb ist es auch schwierig, sie zu diagnostizieren. Trotzdem sind sich Experten einig, dass sie besonders in der Pubertät schwerwiegende Folgen hat.

„Die entscheidenden Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen sind erst mal in der realen Welt, analog, zu lösen. Das heißt, es ist ganz wichtig, dass wir uns zeigen in der Welt, dass wir den eigenen Körper in Besitz nehmen, dass wir Sport machen, dass wir uns trauen, auf andere Menschen zuzugehen und wenn wir das nur virtuell tun, haben wir etwas nicht richtig gelernt. Es ist ganz wichtig, eine stabile Identität und Beziehungsfähigkeit zu entwickeln.“

Bert te Wildt, Psychologe, Ruhr-Universität Bochum

Finanzielle Folgen

Die körperlichen und seelischen Folgen einer Abhängigkeit von Computerspielen sind gravierend. Dazu kommt noch die finanzielle Seite. Neuere Spiele haben Elemente aus dem Glückspiel und können so den Spieler verleiten, viel Geld auszugeben. Das treibt manche Spieler sogar in existenzielle Krisen.

„Man kann auch bei Online-Rollenspielen mittlerweile Geld einsetzen und Geld verlieren und ich kenne Patienten die über 50.000 € in einem Spiel verloren haben. Das sind keine Glücksspieler im engeren Sinn. Sie kaufen virtuelle Waffen oder Pässe um in bestimmte Spielbezirke hineinzukommen.

Und manche sind so süchtig, dass sie viel Geld bezahlen. Manche verschulden sich und mittlerweile erwarten wir sogar, dass Menschen dafür kriminell werden. Aus anderen Ländern wissen wir, dass das schon passiert ist.“

Bert te Wildt, Psychologe, Ruhr-Universität Bochum

Internetsprechstunde für Computerspiel-Sucht

Die Universität hat auf die Nachfrage reagiert und mit OASIS eine Internetsprechstunde eingerichtet. Das Motto OASIS – den Sprung ins Leben wagen zeigt, dass es um eine Rückkehr vom virtuellen ins echte Leben geht. Die Betroffenen können sich online von Fachleuten beraten lassen. Auch ein Selbsttest wird angeboten. So kann man unverbindlich einschätzen, ob das eigene Verhalten schon Merkmale einer Sucht aufweist.

Angehörige bekommen Tipps für den Umgang mit Süchtigen. Sie nehmen eine Schlüsselrolle in der Versorgung ein, weil ihnen problematisches Verhalten meist als erstes auffällt.

„Wir empfehlen keinen kalten Entzug, besonders nicht von Computerspielen, weil wir erleben, dass das existenziell bedrohlich werden kann. Stellen sie sich vor, wenn sie über 12 oder 24 Monate hinweg fast die gesamte Wachzeit in der virtuellen Welt verbringen, mit einer Spielfigur, mit der sie voll identifiziert sind.

Wenn man ihnen die wegnimmt, dann ist das so, als ob ein Teil von ihnen getötet wird oder stirbt. Deswegen reagieren die Patienten auch so extrem depressiv oder suizidal, manche von Ihnen werden auch fremdgefährdend.“

Bert te Wildt, Psychologe, Ruhr-Universität Bochum

Spezielle Kliniken oder Wohngemeinschaften

Deshalb ist hier professionelle Hilfe die beste Wahl. Je nach Schwere des Falles kann ein stationärer Aufenthalt in einer speziellen Klinik oder Wohngemeinschaft sinnvoll sein. Dort können Computerspiel-Süchtige in der Therapie lernen, wieder Interesse am echten Leben zu gewinnen.

In der stationären Therapie lernen die Süchtigen wieder, Interesse am Alltag zu haben. Daniel ist seit 4 Monaten in einer solchen Einrichtung.

„Dadurch dass man hier her kommt und darüber nachdenkt, kommt man zu der Erkenntnis, dass es mehr negativ war als positiv. Weil es virtuell ist und wir eigentlich in einer realen Welt leben.“

Michael, 16 Jahre

Genau das ist Ziel. Die Rückkehr in die reale Welt zu realen Dingen.