Wissenschaftler sind sich einig, dass es Süchte gibt, die ohne ein Suchtmittel wie Alkohol oder Tabak entstehen: Verhaltenssüchte. Computerspiel-Sucht ist so eine Verhaltenssucht.
Die meisten denken bei Sucht an eine Abhängigkeit von einer psychotropen Substanz: Alkohol, Nikotin oder Drogen. Dabei zeigt schon ein Blick in die Statistik, dass man das nicht so einfach erklären kann – 81 % der Deutschen trinken Alkohol, die allermeisten davon sind aber nicht abhängig davon.
Also muss es neben dem Suchtmittel selbst einen großen Anteil an anderen Faktoren geben, die mit bestimmen, ob jemand süchtig wird.
Auch klassische Süchte haben große psychologische Komponenten
Noch deutlicher wird das an einem historischen Beispiel. Crystal Meth, eine der gefährlichsten Drogen in der Geschichte der Menschheit gab es schon im 2. Weltkrieg unter dem Namen Panzerschokolade oder Pervitin. In den Blitzkriegen der Nazis gegen Polen und Frankreich 1939/40 wurde es den deutschen Soldaten in großen Mengen gegeben.
Erstaunlicherweise waren die Soldaten nach Kriegsende nicht süchtig. Die psychologische Komponente – Rückkehr in das alte Leben, Familie und wiedergewonnener Frieden – reichte, um eine Sucht zu verhindern.
Weil die psychologische Komponente so stark ist, gab es schon früh den Versuch, Süchtigkeit von Suchtmitteln zu lösen. Der Begriff der Verhaltenssucht war geboren.
„Jede Richtung menschlichen Interesses vermag süchtig zu entarten.“
Viktor Freiherr von Gebsattel, Psychiater, 1945.
Anerkennung in der Wissenschaft kommt erst spät
Es hat allerdings lange gedauert, bis sich diese Überzeugung auch in der wissenschaftlichen Psychiatrie breitgemacht hat. Erst eine Reihe von wissenschaftlichen Studien zu Glückspiel-Sucht hat offizielle Institutionen wie die American Psychiatric Association (APA) überzeugt, dass sich Süchte ohne Suchtmittel und klassische Süchte wie Alkoholabhängigkeit sehr ähnlich sind.
Die Glückspiel-Sucht spielt also eine große Rolle für die Anerkennung von Süchten ohne Suchtmittel. Weitere Beispiele für sogenannte Verhaltenssüchte sind Sportsucht, Sexsucht, Kaufsucht oder Arbeitssucht. Noch recht neu ist auch die Internet-Sucht, oft auch es weibliches Pendant der Computerspiel-Sucht betrachtet. Während die Jungs spielen, suchen die Mädchen und Frauen Bestätigung in den Likes der sozialen Netzwerke.
Klassische und Verhaltenssüchte haben viel gemeinsam
Was sind nun die Gemeinsamkeiten von stoffgebundenen, klassischen Süchten und den Verhaltenssüchten?
Dafür, dass Verhaltenssüchte gleichwertig zu klassischen Süchten sind, sprechen zwei Argumente:
- Erkenntnisse aus der Neurobiologie: Zahlreiche Studien mit bildgebenden Verfahren, klinische Fallstudien und epidemiologische Erhebungen zeigen, dass beide eng miteinander verwandt sind.
- Ähnliche Kernkriterien: Patienten mit Verhaltenssüchten zeigen ganz ähnliche Symptome wie jene mit klassischen Süchten.
Kernkriterien, die für klassische und Verhaltenssüchte gleichermaßen gelten
- Vor allem das Craving, das unwiderstehliche Verlangen nach der Substanz oder dem süchtig machenden Verhalten ist praktisch identisch. So wie ein Alkoholabhängiger unbedingt seine nächste Flasche Wein braucht, hat auch ein Computerspiel-Süchtiger ein unwiderstehliches Verlangen nach dem nächsten Spiel.
- Die gedankliche Einengung ist vergleichbar. Während für den Alkoholiker die Suche nach Alkohol den Tagesablauf bestimmt, ist es beim Computerspiel-Süchtigen die ständige gedankliche Beschäftigung mit Spiel, Clan, Avatar und Quests.
- Ein starker Kontrollverlust ist ebenfalls typisch für beide Arten der Sucht. Der Computerspiel-Süchtige kann seine Spielzeit nicht mehr kontrollieren. In lichten Momenten bereut er dann die letzte Spielzeit ebenso wie der Alkoholiker seinen Rückfall. Auch wenn jetzt klar wird, dass durch sein Verhalten immer mehr negative Konsequenzen drohen, kann er sich nicht kontrollieren.
- Toleranzentwicklung: Zumindest am Anfang können für Verhaltens- wie stoffgebunden Süchtige noch ein gutes Gefühl und positive Stimmung von ihrem Suchtmittel erwartet werden. Je länger die Sucht dauert, desto mehr braucht der Süchtige jedoch. Selbst lange Spielzeiten lösen beim Computerspiel-Süchtigen nicht mehr das gute Gefühl von früher aus. Spielen wird jetzt eher eingesetzt, um sich nur nicht schlecht zu fühlen.
Schwächere körperlichen Entzugssymptome als bei Alkohol und Heroin
Zumindest in einem Punkt unterscheiden sich Verhaltenssüchte doch von stoffgebundenen Süchten: Die entzugsähnlichen Symptome sind weniger stark. Ein körperlicher Entzug bei Alkohol oder gar Heroinabhängigen ist deutlich schlimmer. Trotzdem sollte auch eine Sucht nach PC, Konsole und Smartphone nicht durch einen (erzwungenen) kalten Entzug beendet werden.
Kritiker wenden oft ein, dass bei substanzgebundenen Süchten wie Alkoholabhängigkeit auch physiologische Veränderungen nachweisbar sind – bei Verhaltenssüchten diese aber fehlen. Dem widersprechen neuere Studien.
Auch Computerspiel-Süchtige brauchen immer mehr
So kann man in klinischen Studien beobachten, dass abhängige Computerspieler mehr Belohnungsanreize brauchen, damit ihre Aufmerksamkeit geweckt wird. Gesunde Computerspieler sind schon mit kleinen Belohnungen zufrieden.
Das lässt auf eine neurologische Veränderung durch die Sucht schließen. Gleich wie ein pathologischer Glückspieler länger und um immer höhere Einsätze spielt, je länger die Sucht andauert.
Fazit
Obwohl manchmal in der Berichterstattung der Eindruck entsteht, dass Computersucht die ganze heranwachsende Generation in Bildschirmzombies verwandelt, finden die allermeisten Computerspieler eine angemessene Balance zwischen Real-Life und virtueller Welt.
Es ist wichtig Gefahren zu benennen und Probleme frühzeitig zu erkennen. Gesellschaftliche Panik ist jedoch nicht angebracht.
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