Henne und Ei: Computerspiel-Sucht als Ursache oder als Symptom?

Süchtige stellen oft die Frage nach der Ursache ihrer Abhängigkeit. Dabei ist es schwer zu beantworten: Was ist der Auslöser, was sind die Folgen ihrer Leiden?

Diagramm: Computerspiel-Sucht als Ursache von psychischen Störungen vs. Computerspiel-Sucht als Folge von psychischen Störungen

Es ist eine der am heißesten diskutierten Fragen zu Computerspiel-Sucht:

  • War da zuerst die Computerspiel-Sucht, die dann z. B. eine Depression auslöst oder
  • löst eine bestehende Depression die Computerspiel-Sucht aus, weil dem Betroffenen nur noch der Computer als Beschäftigung bleibt?

Für beide Erklärungsversuche gibt es ein überzeugendes Narrativ.

Variante 1: Computerspiel-Sucht als Ursache

Eine vorbestehende Störung bedeutet große Einschränkungen im alltäglichen Leben. Depressive sind antriebslos, schlecht gelaunt, schaffen es in schweren depressiven Phasen nicht mehr, das Haus zu verlassen. Sich für Aktivitäten aufzuraffen wird unmöglich. Das einzige was noch funktioniert – schließlich steht der Computer eh schon im eigenen Zimmer – Computerspielen.

Ein Depressiver verliert sich in Computerspielen

Am Computer wird die schwere Zeit erträglicher, die Ablenkung unterbricht das schwere Gedankenkreisen. Es gibt keinen Grund aufzuhören, keine Termine oder Verabredungen, die man einhalten müsste (oder könnte). Aus einer Depression wurde eine Sucht.

Noch einfacher passiert das bei sozialen Phobikern. Eine soziale Phobie macht nicht nur schüchtern, sondern viel mehr: Es wird unmöglich, sich unter Leute zu begeben, mit ihnen zu reden. Da fällt es leicht, zu Hause zu bleiben. Aus Langeweile kommt jetzt der Computer zum Zug.

Der Computer als Alternative zum sozialen Real Life

In Computerspielen vergeht die Zeit schnell und angenehm. In Online-Rollenspielen kann man mit anderen in Kontakt treten – aber gleichzeitig schön auf Abstand bleiben. Bei Bedarf kann man den anderen schnell stumm schalten oder aus seinem Account löschen, es gibt kein Risiko wie im echten Leben. Warum sich in der echten Welt anstrengen? Und warum die Spielzeit begrenzen? Während es in der echten Welt mit echten Kontakten bergab geht, läuft es in der virtuellen gut. Aus der sozialen Phobie wird eine tatsächliche Abhängigkeit von den Video-Spielen.

Variante 2: Computerspiel-Sucht als Auslöser

Hier steht am Anfang steht die Computerspiel-Sucht. Weil der Betroffene nicht mehr vom PC loskommt, versanden Hobbys und Freizeitaktivitäten. Fußballtraining wird geschwänzt, die Freunde aus dem Real-Life geben nach zahlreichen Versuchen schließlich auf, ihn aus dem Haus zu locken.

Eltern oder Partner versuchen verzweifelt, zu intervenieren. Die gut gemeinten Versuche eskalieren, im Streit verschlechtert sich die Beziehung. Der Rückzug ist bereits ein Symptom einer Depression, der Betroffene verlässt Zimmer und Haus praktisch nicht mehr.

Wer nicht mehr unter die Leute geht, hat weniger Motivation, sich selbst zu pflegen. Die Vernachlässigung des eigenen Körpers ist auch ein Symptom einer Depression.

Einen geregelten Tagesablauf hat der Betroffene inzwischen nicht mehr, Tag und Nacht verschmelzen. Diese Veränderung des Biorhythmus passt wiederum zu einer Depression, Schlafstörungen sind die Folge. Die Sucht hat den Betroffenen und sein Leben nun im Griff, je mehr ihm das bewusst wird, desto schlimmer wird das Kernsymptom der Depression: gedrückte Stimmung und Freudlosigkeit. Aus anfänglicher Computerspiel-Sucht wird so eine ausgeprägte Depression.

Fazit: Mehr als eine akademische Frage

Die Diskussion, was Ursache oder Folge ist, mag für Betroffene unwichtig erscheinen. Schließlich ist ihr wichtiges Ziel, eine Besserung zu bekommen – wo aus akademischer Sicht die Grundlage liegt und welchen Namen man ihrem Zustand gibt, darf ihnen egal sein.

Für Psychologen, Psychiater und anderes behandelndes Fachpersonal hingegen macht es einen Unterschied, wie die Entstehungsgeschichte und die Ursache angenommen wird. Für die Therapie ist es wichtig, ob man als Schwerpunkt auf suchtspezifische Inhalte oder auf dahinterliegende Störungen wie Depression oder Ängste legt. Und hier schließt sich der Kreis, denn am Ende ist es der Patient, der von der optimalen Diagnose und der passenden Wahl der Behandlungsmethode profitiert.

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