Wenn Jugendliche, Teenager oder junge Erwachsene ihre Zeit nicht mehr in der realen Welt verbringen wollen, ist das erst einmal schwer zu glauben. Ist ihnen die echte Welt zu schwierig, zu kompliziert mit ihrem Leistungsdruck, ihren Regeln und Vorschriften?
Wollen die Betroffenen der Welt vorübergehend entfliehen? Suchen sie Abwechslung und Abenteuer in der virtuellen Welt? Oder ist es tatsächlich eine bewusste Entscheidung, nicht mehr Teil dieser realen Welt, mit Schule, Job und deren täglichen Herausforderungen zu sein?
Sucht als bewusste Abkehr vom schwierigen Real-Life
Leistungsdruck wird oft als Auslöser von Computerspiel-Sucht genannt, familiäre Probleme ebenso. Computerspiel-Sucht lässt sich aber meist nicht auf eine einzelne Ursache begrenzen.
Es ist auch schwierig, zu sagen, was schon als süchtiges Verhalten gilt. Im Alltag sind wir „süchtig nach einem Lied“, „süchtig nach Pommes“ und „süchtig nach Breaking Bad“.
Wenn es um stoffungebundene Süchte geht – also abseits von Drogen, Alkohol oder Tabak – orientieren wir uns an Normen. Wie viel isst mein Nachbar, wie viel sieht das Nachbarskind fern?
Besonders Eltern machen sich Sorgen, wenn das Kind viel Zeit an Computer und Smartphone verbringt. Der inflationäre Gebrauch von „Sucht“ und „süchtig“ ist dann keine Hilfe.
Schwierige Definition von Computerspiel-Sucht
Deshalb ist es – für Psychiater, Psychologen aber auch für Betroffene und Angehörige wichtig, klare Kriterien zu schaffen.
Das erste Mal taucht der Begriff Computerspiel-Sucht als „Internet Addiction“ 1995 beim Psychiater Ivan Goldberg auf. Dabei war das noch eher als Belustigung über die Vernarrtheit der Jugendlichen in die damals neuen Medien gemeint. Schon einige Jahre später musste er das bedauern, als er die Tragweite des Problems erkannte.
Währenddessen eröffnete Kimberley Young das Net Addiction Center, die erste Einrichtung zur Behandlung von Internetsucht. Von da an hat der Begriff eine steile Karriere hingelegt. Mit der digitalen Revolution, der Entwicklung der sozialen Medien und neuen innovativen Computerspielen ist aus dem Scherz ein ernstes Problem geworden.
Viele Begriffe, ein Problem
Etwas verwirrend bleibt dabei, welchen Namen das Problem dabei bekommt. Oft haben Wissenschaftler einen neuen Begriff eingeführt, ohne dabei den Gedanken ihrer Vorgänger weiterzudenken. Deshalb heißt Computerspiel-Sucht je nach Autor:
- pathologischer Internetgebrauch (Davis 2001)
- Internetomania (Shapira et al. 2003)
- computervermittelte Kommunikationssucht (Computer-Mediated Communication Addiction; Li und Chung 2006),
- pathologisch dysfunktionaler PC-Gebrauch (Petry 2009a)
- exzessiv-suchtartige Computerspiel- und Internetnutzung (Grüsser und Thalemann 2006)
- Videospiel-Sucht (Illy und Florack 2021)
Damit endeten die Debatten noch nicht, denn auch bei zwei grundlegenden Fragen waren sich Forscher oft nicht einig:
- Gibt es die Computerspiel-Sucht überhaupt?
- Ist es wirklich eine eigenständige Störung, etwas Neues? Oder eher ein weiteres Symptom einer grundlegenden Störung wie Depression oder soziale Phobie?
Im Großen und Ganzen hat man den Streit nach 20-jähriger Debatte aber beendet. Ja, Computerspiel-Sucht gibt es wirklich (Gaming Disorder). Das zeigen Studien und Erfahrungsberichte aus Kliniken und Institutionen weltweit.
Süchtige in Beratungsstellen
Auch in der alltäglichen Praxis bemerkten Suchtberatungsstellen, Ambulanzen und Psychotherapeuten, dass da eine neue Welle an Betroffenen an sie herantritt. Sie erfüllten dieselben Kriterien wie andere Süchtige:
- Sie können das eigene Nutzungsverhalten nicht mehr kontrollieren, verbringen mehr Zeit vor dem Computer als sie wollen.
- Vernachlässigen Freunde, Hobbys und andere Interessen.
- Zeigen Entzugserscheinungen, sind depressiv verstimmt, gereizt und antriebslos.
Erster Anlauf zu einer brauchbaren Definition
Deshalb war es überfällig, sich auf eine erste, vorläufige Definition zu einigen. Das passierte durch Shaw und Black (2008), die festlegten:
Computerspiel- bzw. Internet-Sucht ist, wenn es
- exzessiv betrieben wird,
- nicht mehr bewusst kontrollierbar ist,
- große Nachteile für den Betroffenen bringt und
- zu großem Stress führt.
Nachdem die Computerspiel-Sucht damit zu einem real existierenden Problem geadelt wurde, konnte man sich der zweiten Frage widmen.
Ist Computerspiel-Sucht eine eigenständige Störung?
Hauptargument der Gegner ist, dass rund 86 % der Betroffenen neben der Computerspiel-Sucht eine weitere psychiatrische Diagnose aufweisen, z. B. eine Depression. So könnte es sein, dass ein Depressiver, der nicht mehr am Alltag teilnimmt und sich zurückzieht, eben deshalb so viel spielt. Damit wäre die Depression die eigentliche Ursache und das süchtige Computerspielen nur mehr ein Symptom.
Allerdings gibt es dieses Dilemma auch bei anderen, lange akzeptierten Süchten wie Alkoholabhängigkeit. Auch hier sind 80 % der Süchtigen depressiv. Bei Glückspielabhängigen weisen ebenfalls 95 % der Patienten eine zweite Störung auf. Niemand käme auf die Idee, die Existenz von Alkohol-Sucht anzuzweifeln.
Vergleich mit altbekannten Suchtformen
Noch komplizierter ist, dass man weiß, dass Alkohol-Sucht eine Depression auslösen kann – aber auch umgekehrt eine Depression eine Alkohol-Sucht bedingen kann. Auch bei Computerspiel-Sucht muss man so eine Verkettung annehmen.
Forscher haben inzwischen Studien vorgelegt, die eher für eine eigenständige Störung sprechen. Also wird die Computerspiel-Sucht nicht (immer) von einer anderen Störung ausgelöst.
Fazit
Für den Alltag ist diese Diskussion eher nicht wichtig. Für Betroffene und Angehörige kann es gut sein, wenn das Problem einen Namen bekommt.
Es ist wichtiger, dann unter diesem Namen Hilfe zu bekommen. Auch wenn es aus wissenschaftlicher Sicht möglicherweise ein falsches Label sein sollte.
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